In der islamischen Tradition gibt es zahlreiche Beispiele und Warnungen für Zeiten voller Unruhe und Verwirrung. Eine davon ist der Hadith, in dem vom Festklammern an einer „Wurzel“ die Rede ist. Der Prophet (s.a.w.) betont darin, wie wichtig es ist, in Zeiten der Fitna (Verführung und Zwietracht) seinen Glauben standhaft zu bewahren. Er beschreibt eine Situation, in der es besser sei, „an einer Baumwurzel festzuhalten und zu sterben“, als sich irreführenden Anführern hinzugeben. (Ibn Mace)
Natürlich ist damit keine wortwörtliche Baumwurzel gemeint, sondern vielmehr die unverrückbaren Grundsätze des Glaubens. Selbst wenn die gesellschaftlichen Umstände turbulent sind, soll man sich am klaren Kern der Religion orientieren. Kurz gesagt: Lieber alleine an der Wahrheit festhalten, als blind einer Menge zu folgen, die vom rechten Weg abgekommen ist.
Gemeinschaft und ihre Bedeutung
Dennoch ist Islam grundsätzlich eine Religion der Gemeinschaft. So heißt es beispielsweise sinngemäß: „Wer sich von der Herde trennt, den frisst der Wolf.“ Diese Redensart unterstreicht, dass der Einzelgänger leichter Opfer von Täuschungen oder Angriffen wird. Auch verschiedene Hadithe und Koranverse, etwa Sure Al Imran 3:103, rufen die Gläubigen dazu auf, sich gemeinsam an Gottes Seil zu halten und nicht auseinanderzubrechen.
Eine solche Gemeinschaft bietet normalerweise Schutz und Korrektur. Gerade in spirituellen Belangen kann sie helfen, Irrtümer aufzudecken und Fehler zu beheben. Allerdings sollte man sich bewusst sein, dass eine Gemeinschaft nur dann wirklich segensreich ist, wenn ihre Fundamente in Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue zu Koran und Sunna verankert sind. Ein Zusammenschluss, der von Zwietracht oder Machtstreben geprägt ist, kann schnell zu einer Quelle von Fitna werden.
Fitna erkennen und angemessen reagieren
Doch wie kann man erkennen, ob eine Gruppierung oder Bewegung ins Schieflot geraten ist? Ein wichtiger Anhaltspunkt ist ihre Übereinstimmung mit den grundlegenden Werten des Islam. Sure al-Ma’ida 5:2 mahnt die Menschen, einander in Rechtschaffenheit und Frömmigkeit zu unterstützen, nicht aber in Sünde und Feindseligkeit. Wenn also eine Gemeinschaft Aussagen oder Handlungen propagiert, die gegen offenkundige Gebote und Verbote der Offenbarung verstoßen, ist Vorsicht geboten.
Die angemessene Reaktion erfordert Fingerspitzengefühl und Urteilskraft. Zunächst geht es darum, die eigenen Zweifel offen zu äußern und nach Möglichkeit konstruktive Kritik einzubringen. Lässt sich eine Korrektur erzielen, kann die Gemeinschaft als Ganzes gestärkt daraus hervorgehen. Erst wenn alle Versuche scheitern und die Fitna offensichtlich wird, empfiehlt es sich, zur eigenen Glaubenssicherung auf Distanz zu gehen – so, wie es der Hadith vom Festhalten an der „Wurzel“ bildhaft darstellt.
„Wurzelgriff“: Ein stilles Bekenntnis zur Wahrheit
Das Festklammern an der metaphorischen Wurzel ist keine Absage an alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Vielmehr signalisiert es eine tiefe Überzeugung, die sich notfalls gegen den Gruppendruck stellt. Dieser Schritt kann durchaus als mutige Tat verstanden werden, da er oft Einsamkeit und Unverständnis nach sich zieht. Doch das ist allemal besser, als sich an offensichtlichem Unrecht zu beteiligen und die eigenen Prinzipien zu verraten.
In einer Zeit, in der unzählige Meinungen um unsere Aufmerksamkeit buhlen, erinnert uns dieser Hadith daran, dass wir unser Herz und unseren Geist prüfen müssen. Eine Gemeinschaft, die in Harmonie mit den göttlichen Geboten steht, ist ein Segen. Wenn jedoch Macht und Egoismus regieren, wird es höchste Zeit, selbstbewusst Position zu beziehen. Das Festhalten an der „Wurzel“ steht also für ein stilles, aber kraftvolles Bekenntnis zur Wahrheit – und dieses Bekenntnis kann manchmal lauter sprechen als jede Parole.